SONNTAG, 11.45 UHR

Sören Henning und Lisa Santos waren spät zu Bett gegangen und ebenso spät aufgestanden, obwohl sie sich für diesen Sonntag eine Menge vorgenommen hatten: gemütlich frühstücken, am Nachmittag zu Lisas Eltern nach Schleswig fahren, dort Kaffee trinken und ein wenig plaudern und vor der Rückfahrt nach Kiel noch Lisas Schwester Carmen einen Besuch im Heim abstatten. Dort würde Lisa sie ein bis zwei Stunden lang kämmen, schminken und sich mit ihr unterhalten, als könnte Carmen sie verstehen. Vielleicht tat Carmen das ja auch, obwohl sie sich seit dem Überfall vor fast fünfundzwanzig Jahren, bei dem sie beinahe gestorben wäre, nicht mehr artikulieren konnte. Ihr Zustand hatte sich zwar in den letzten Jahren nicht verschlechtert, aber es war auch trotz aller Therapiemaßnahmen keine Besserung zu erwarten. Bis zu ihrem Tod würde sie ein Pflegefall bleiben, und das konnte noch Jahrzehnte dauern.

Sie hatten gerade mit dem Essen begonnen, als das Telefon klingelte. Lisa runzelte die Stirn und warf Sören einen Blick zu, den er nur zu gut zu deuten wusste. Da sie keinen Anruf erwarteten, aber Bereitschaft hatten, war dies möglicherweise das Ende eines durchgeplanten Tages. Doch auf dem Display stand nur »unbekannt«. Lisa atmete einmal tief durch und wartete einen Moment, bevor sie abhob. »Santos.«

»Genau Sie wollte ich sprechen.« »Ja, worum geht's? Und mit wem spreche ich?« »Das tut nichts zur Sache. Ist Ihr Partner bei Ihnen?« »Ja, aber ...«

»Haben Sie etwas zum Schreiben zur Hand?« »Ja, aber ...«

»Gut, und unterbrechen Sie mich nicht mehr, meinen Namen werde ich Ihnen so oder so nicht nennen. Fahren Sie nach Schönberg, dort werden Sie etwas wahrhaft Schönes vorfinden, es kommt natürlich darauf an, aus welchem Blickwinkel man es betrachtet...« Nachfolgend diktierte er eine Adresse, Lisa Santos schrieb mit. »Haben Sie alles notiert?« »Ja, aber ...«

»Sie und Ihr >Ja, aber<. Fahren Sie einfach zu der angegebenen Adresse. Ich melde mich wieder. Einen schönen Tag noch.«

»Warten Sie. Wir fahren nicht einfach so nach Schönberg, Sie müssen schon etwas deutlicher werden.« Für einen Moment entstand eine Pause, bis der Unbekannte sagte: »Also gut. Ich sage nur Peter Bruhns, Musikproduzent. Das muss reichen.« Der Anrufer legte auf. »Was ist?«, fragte Sören, als er das nachdenkliche Gesicht von Lisa sah, die den Hörer noch immer in der Hand hielt und ins Leere starrte. Sören biss von dem Croissant ab, das er vor nicht einmal einer halben Stunde beim Bäcker um die Ecke geholt hatte, so wie er es jeden Sonntag tat. Croissants, zwei Brötchen, die Sonntagszeitung. Er verbrachte die meiste freie Zeit bei Lisa, obwohl er noch eine eigene Wohnung hatte, ein Überbleibsel aus der schlimmsten und depressivsten Phase seines Lebens. Er versuchte es noch einmal: »Hey, ich habe dich was gefragt. Was ist passiert? Du siehst aus, als wärst du einem Gespenst begegnet.«

»Peter Bruhns ist passiert«, antwortete Santos mit ernster Miene und nahm wieder Platz, trank von dem Kaffee, der nur noch lauwarm war, und behielt die Tasse in der Hand. »Das war ein anonymer Anrufer. Er wollte mich sprechen und hat gefragt, ob du auch hier bist. Wir ...«

»Sagtest du Bruhns?«, sagte Henning mit zweifelndem Blick und ließ sein Croissant sinken. »Der Bruhns?« »Scheint so, oder kennst du noch einen anderen Musikproduzenten namens Peter Bruhns? Wir müssen dorthin, ich habe alles aufgeschrieben. Außerdem hast du offensichtlich nicht richtig zugehört«, brauste sie auf. »Er wollte mich sprechen und hat mich gefragt, ob du hier bist.«

»Kein Witz?«

»Klang nicht danach, ganz im Gegenteil. Mensch, Sören, er wollte mich sprechen, mich persönlich, hörst du? Warum? Das ist kein Witz, und wenn, dann ein ziemlich übler. Lass uns fahren.«

»Alles klar, dann wollen wir mal.« Henning erhob sich und wusch sich die Hände, Santos stand bereits an der Tür. »Wie hat er sich angehört?«

»Keine Ahnung, ich kenne die Stimme nicht. Kann sein, dass er sie verstellt hat. Ich habe ein ziemlich ungutes Gefühl. Der Typ meint es ernst. Es gibt doch kaum jemanden, der meine Privatnummer kennt. Komm, beeil dich, ich habe keine Ruhe, bevor ich nicht Gewissheit habe.« Während der Fahrt sagte Santos, während sie aus dem Seitenfenster guckte: »Ausgerechnet dieser Typ. Ich habe immer geglaubt, einer wie er würde ewig leben. Und er wohl auch.«

»Vielleicht ist er ja gar nicht tot. Außerdem magst du ihn doch, oder?«, erwiderte Henning mit einem Schmunzeln.

»Quatsch, solche Typen kann ich nicht mögen, allein schon seine widerlichen Sprüche. Tut mir leid, aber ...«

»Ist schon gut, ich konnte den Kerl auch noch nie leiden. Seine Wertvorstellungen sind nicht meine.« »D'accord«, antwortete Santos nur. Sie schwieg eine Weile und sagte dann: »Wieso ich? Wieso hat er mich angerufen? Und woher weiß er, dass du bei mir warst? Er muss einiges über uns wissen, sonst hätte er diese Frage doch gar nicht gestellt. Oder wie siehst du das?« »Mag schon sein. Hast du etwa Angst?« »Nein, aber ich darf mir doch wohl Gedanken machen, oder? Ich meine, angesichts unserer Erfahrungen in den letzten Jahren. Vielleicht reagiere ich auch über.« Nach einer halben Stunde hielten sie vor dem angegebenen Haus. Von außen ein eher unauffälliger Bau zwischen ähnlichen Häusern an der Promenade und doch Luxus pur, wovon auch der sündhaft teure weiße Porsche Cayenne und die dunkelblaue Limousine aus einer Edelschmiede vor der Garage zeugten. Eine blickdichte Hecke schützte vor neugierigen Blicken, lediglich durch die schmiedeeisernen Stäbe des Zufahrtstores konnte man einen Eindruck von dem gewinnen, was sich hinter der Hecke befand. Am Tor stand kein Namensschild, nicht einmal die Initialen. Ein Refugium, in dem Bruhns anonym blieb.

Ein kräftiger, böiger Wind blies von der See, die ohnehin niedrige Temperatur fühlte sich um mindestens fünf Grad kälter an. Lisa Santos schlug den Kragen ihrer Jacke hoch, als sie ausstieg.

Henning erblickte schon draußen drei selbst für einen großgewachsenen Menschen in unerreichbarer Höhe angebrachte Überwachungskameras, und sicher befanden sich noch mehr davon an anderen Stellen rings um das Haus, dazu wie üblich mehrere Bewegungsmelder und weitere Alarmeinrichtungen. Ein Mann wie Bruhns brauchte so etwas, allein schon, um seine Wichtigkeit gegenüber den Nachbarn, den Medien und der Öffentlichkeit zu demonstrieren. Er hatte eine Menge Feinde, doch bisher war keiner so weit gegangen, Bruhns körperlich anzugreifen oder gar in eines seiner Häuser einzudringen.

 

Das Tor war nur angelehnt, aber so, dass es aussah, als wäre es geschlossen. Henning drückte es vorsichtig auf, ohne dass Alarm ausgelöst wurde, und lehnte es gleich wieder an. Er warf einen Blick zurück zur Straße, wo jedoch niemand Notiz von ihm und Santos nahm. Sie gingen die gut zwanzig Meter bis zum Haus, auch hier war die Tür nur angelehnt.

»Wir sind nicht geleimt worden«, sagte Santos mit belegter Stimme, während sie die Tür aufmachte. »Da wirst du wohl recht haben«, sagte Henning trocken, während sie sich im großen Flur die Latexhandschuhe anzogen. Henning drückte eine Tür auf, doch die dahinterliegende Gästetoilette war leer, der Duft von Lavendel strömte ihnen entgegen.

Sie betraten das Wohnzimmer, blieben jedoch gleich an der Tür stehen. Für einen Moment stockte ihnen der Atem. Der sich ihnen bietende Anblick war makaber und Ausdruck eines morbiden Humors.

»Verdammte Scheiße, was ist das denn? Ich dachte, es geht nur um Bruhns«, stieß Henning hervor. »Was macht die Frau hier?«

»Sören, ich weiß es nicht.«

»Das ist der absolute Wahnsinn. Wer immer das getan hat, muss total durchgeknallt sein. Oder er spielt ein verdammtes Scheißspiel mit uns.«

»Sowohl als auch.« Santos bewegte sich auf die beiden Toten zu. Sie kniff die Augen zusammen, alles in ihr vibrierte, gleichzeitig kroch eine eisige Kälte in ihr hoch, obwohl es in dem Haus recht warm war. Sie schluckte schwer, als sie etwa einen Meter vor der jungen Frau und Bruhns stand und die gespenstische Szene auf sich wirken ließ. »So etwas habe ich noch nie gesehen«, sagte Santos leise. »Ich glaube, so was hat noch nie einer aus unserer Abteilung gesehen«, meinte Henning mit kehliger Stimme und trat neben seine Partnerin.

Bruhns hing lässig, fast entspannt in der Ecke der riesigen beigefarbenen Ledercouch, die Beine ausgestreckt und leicht gespreizt, die Augen geöffnet, die weißen Zähne blitzten durch die schmalen Lippen, als wäre er nicht mehr dazu gekommen, den Mund zu schließen. Ein beinahe surrealistisches Bild.

»Sieht fast so aus, als würde er grinsen«, bemerkte Lisa und ließ die Szene noch eine ganze Weile auf sich wirken. »Nur der hässliche rote Fleck auf seiner Stirn passt nicht dazu. Ich glaube nicht, dass er darüber gelacht hat, obwohl ich ihm eigentlich alles zutraue.« Sie trat näher auf die junge Frau zu, die auf dem Boden vor Bruhns kniete, die linke Hand auf Bruhns' rechtem Oberschenkel, die andere in seinem Schritt, ihre Finger umfassten seinen Penis. Bis auf den schwarzen Minislip war sie nackt, Bruhns hingegen bis auf das weiße Jackett, das vor dem Kamin lag, vollständig angezogen, lediglich sein rotes Rüschenhemd stand bis zum Bauchnabel offen, genau wie der Reißverschluss seiner Hose, aus der sein Penis heraushing, fest umgriffen von der kalten Hand der Unbekannten.

Die ganze Szene wirkte gestellt, die Toten erinnerten an Wachsfiguren, nach einem realen Abbild von Menschenhand geformt, oder an menschliche Puppen, denen befohlen worden war, in absoluter Regungslosigkeit zu verharren. Und doch waren es Menschen, die vor kurzem noch gelebt hatten, Menschen, die, wie es aussah, eine heiße Nacht miteinander hatten verbringen wollen. Ein neunundvierzigjähriger, über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannter Komponist und Produzent und eine vielleicht achtzehn- bis zwanzigjährige junge Frau mit einem sündhaft schönen Körper. Lange blonde Haare, sehr schlank, doch mit ausgeprägter Oberweite. Eine mit all jenen äußeren Attributen ausgestattete blutjunge Schönheit, wie Bruhns sie liebte und, wenn man den Medien glauben konnte, verschliss. Eine nach der anderen, sie kamen und gingen, er nahm sie und warf sie wieder weg. Alle wussten es, und alle duldeten es, weil es heutzutage fast normal war, wenn ältere Männer sich mit Frauen vergnügten, die ihre Töchter oder gar Enkeltöchter hätten sein können. Es verschaffte Bruhns Anerkennung, aber auch Neid. Natürlich war das auch die Schuld der jungen Frauen, die sich ihm an den Hals warfen. Bruhns nahm sich nur, was sich ihm anbot, und es waren Heerscharen, die sich ihm wie Huren verkauften. Eine Zeitung hatte unlängst geschrieben, ein bekannter deutscher Musikproduzent (der Name wurde nicht genannt, doch jeder wusste aufgrund der Beschreibung, dass Bruhns gemeint war) liebe es, sich mit jungen Mädchen zu vergnügen, die nur zu gerne bereit seien, sich für ihn zu prostituieren. Er hatte eine Klage gegen die Zeitung wegen Rufmords angestrebt, die Verhandlung hätte demnächst stattfinden sollen. Er fühlte sich verunglimpft, in seinen Persönlichkeitsrechten verletzt. Aber auch das war Bruhns, ein Mann mit vielen Gesichtern, er konnte austeilen und beleidigen, bis andere am Boden lagen, aber sobald jemand etwas gegen ihn sagte, schoss er umso heftiger zurück, denn seine Zunge war die schärfste Klinge im Showbusiness, für ihn hatte es nie ein Tabu gegeben. Er hatte schon mehrere Prozesse geführt, und er hatte sie alle gewonnen. Er verfügte über das nötige Geld und damit auch über einen nicht zu unterschätzenden Einfluss. Und er hatte Macht. Doch all das nutzte ihm nun nichts mehr. In nicht allzu ferner Zukunft würde kaum noch jemand über ihn sprechen. Und wenn, dann würden die Berichte vermutlich eher nüchtern gehalten sein und womöglich den wahren Peter Bruhns zeigen, so wie man ihn zu Lebzeiten nie gezeigt hatte.

Für einen Augenblick zeichnete sich auf Hennings Lippen angesichts des grotesken Anblicks ein leichtes zynisches Lächeln ab. Er hatte schon viele Tote gesehen, aber noch nie eine derartige Aufbahrung. Irgendjemand hatte offenbar großen Wert darauf gelegt, Bruhns nach seinem Ableben so zu zeigen, wie er gelebt hatte, dekadent, sexsüchtig, mit einer jungen Frau. Das Grinsen auf den schmalen Lippen wie eingemeißelt. Aber was war das Motiv für diesen Doppelmord? Rache? Hass? Demütigung? Was immer es auch gewesen sein mochte, der Täter musste einen Grund gehabt haben, seine Opfer so zur Schau zu stellen.

Henning ließ den Blick langsam durch das Zimmer schweifen, als wollte er jedes noch so kleine Detail in sich aufsaugen und wie auf einer Festplatte speichern. Für einen Moment stand er an dem riesigen, langgestreckten Fenster mit der freien Sicht auf die Ostsee, die, getrieben von dem böigen, aus den Tiefen Skandinaviens kommenden Wind, Schaumkronen ans Ufer spülte. Herrenlose Boote schaukelten auf den Wellen. Der Himmel hatte aufgeklart, und die Sonne kämpfte gegen die Kälte, aber der Nordwind war zu stark. Doch es konnte nicht mehr allzu lange dauern, bis der Frühling sich durchsetzen würde.

Henning drehte sich wieder um. Sowohl Bruhns als auch die junge Frau waren durch einen Schuss in den Kopf getötet worden. Die Kleidung der Frau lag in dem großzügig geschnittenen Wohnbereich verstreut. Auf dem schweren, ovalen Glastisch standen zwei fast leere Weingläser, die dazugehörige Flasche lag auf dem Boden, ein Teil des roten Inhalts hatte sich über den Teppich verteilt, nur noch ein winziger Rest befand sich in der Flasche. Der Wohnraum war gut fünfzig Quadratmeter groß, dezent mit hellen, freundlichen Farben eingerichtet. Allein das, was er sah, musste ein halbes Vermögen wert sein, die Skulpturen über dem Kamin, die Bilder, die schneeweiße Ledergarnitur von einem der renommiertesten Designer. Ein riesiges Bücherregal zog sich über eine ganze Wand, in der Mitte stand der Brockhaus in exakt jenem weißen Leder wie die Couchgarnitur, der dekadente Luxus der Oberschicht. Ein Blick genügte, um zu erkennen, dass die Bücher nie angefasst, geschweige denn gelesen wurden.

»Mann, muss der Kohle gehabt haben«, sagte Henning leise.

»Das weiß doch jeder«, war die Antwort. Nach einem weiteren kurzen Rundblick sah Henning Santos an, was sie jedoch nicht bemerkte oder bemerken wollte, sie war zu sehr in Gedanken versunken. Sie befanden sich an einem Tatort, der einzigartig war. Sie schürzte die Lippen, schüttelte den Kopf und wandte sich ab. Henning holte sein Handy aus der Tasche und machte ein paar Bilder der Toten. Die von der Kriminaltechnik gemachten Fotos würden später auf seinem Schreibtisch landen und aussagekräftiger sein, dennoch war dieser allererste Eindruck der wichtigste. Das Gesamtbild zählte, und er versuchte, sich jedes noch so kleine Detail nicht nur zu merken, sondern zu verinnerlichen. Er sog den Geruch auf, nicht unangenehm, nicht der Geruch des Todes, sondern eher wie Blumen, der erste Hauch von Frühling, obwohl im ganzen Raum keine einzige Blume stand, nur geruchlose Grünpflanzen. Die Temperatur war behaglich, vielleicht ein wenig zu hoch, Henning schätzte dreiundzwanzig, vierundzwanzig Grad. Es würde nachher, wenn der Rechtsmediziner Professor Jürgens die Leichen untersuchte, von Bedeutung sein, denn nur so konnte er bereits vor Ort den ungefähren Todeszeitpunkt bestimmen.

Henning betrachtete nun eingehend die Toten, ging langsam um die Couch herum und machte weitere Fotos. Er hätte die beiden gerne angefasst, um herauszufinden, ob die Totenstarre bereits vollständig ausgebildet war. Allerdings hatte er Angst, Spuren zu vernichten. Letztlich war es nebensächlich, denn Henning dachte weiter. Warum lag Bruhns in dieser seltsamen Stellung auf der Couch? Warum stand seine Hose offen? Warum war die junge Frau nackt, und warum machte sie selbst im Tod noch Anstalten, als wollte sie Bruhns oral befriedigen? Was war hier passiert? Und wie? Und warum? Und wer hatte diese fast gruselig zu nennende Tat begangen? Gruselig, wäre da nicht auch diese seltsame Art höchst morbiden Humors. Wer Leichen so plazierte und drapierte, musste über einen eigenartigen Humor verfügen, über den allerdings vermutlich nur er selbst lachen konnte. Ein Humor, wie Henning ihn sonst nur von Rechtsmedizinern kannte.

»Was denkst du?« Santos war neben ihn getreten. Henning, der ziemlich angespannt wirkte, antwortete wie aus weiter Ferne: »Ich versuche zu ergründen, was den Täter bewogen haben könnte, den Tatort so herzurichten.«

»Das versuche ich auch schon die ganze Zeit, aber dazu müsste ich mich in sein Gehirn einklinken. Da liegt das Problem, ich kann so etwas nicht.« »Wer kann das schon?« »Was fällt dir auf?«, fragte sie.

»Alles«, entgegnete er einsilbig. Doch nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Das ist so ziemlich das Absurdeste, was mir je untergekommen ist. Es übertrifft wirklich alles. Wenn ich's nicht mit eigenen Augen sehen würde, ich würde es nicht glauben.«

»Ich auch nicht. Wir lernen eben permanent dazu.« »Auf solche Lernerlebnisse kann ich gern verzichten ... Bruhns, okay, der hatte nicht wenig Feinde, aber warum die Kleine? Was hat sie mit der ganzen Sache zu tun?« »Eine Zeugin, die einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort war? Sie hätte den Täter aller Wahrscheinlichkeit nach identifizieren können, und welcher Täter kann so was schon zulassen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihr Tod mit eingeplant war.«

Henning schüttelte den Kopf und fuhr sich mit der Hand übers Kinn, wie immer, wenn er nachdachte. »Ist mir zu einfach. Frag mich aber nicht, warum.« »Ich frage dich trotzdem. Warum ist dir das zu einfach?« »Schau dir doch nur diese Drapierung an. Sie war mehr als nur eine Zeugin, sie war meines Erachtens Teil eines perfiden Plans. Wir haben doch schon etliche Tatorte besichtigt, aber wir haben noch nie Tote in einer derart unnatürlichen Stellung vorgefunden. Mir scheint, als habe der Täter sie zur Verhöhnung noch entsprechend hergerichtet - oder er hat es für uns getan.«

»Was willst du damit sagen?«, fragte Santos mit zusammengekniffenen Augen, als wollte sie in Hennings Gedankenwelt eintauchen. »Denkst du, er hat deswegen mich sprechen wollen?«

»Kann schon sein. Womöglich hält er sich für einen Künstler und wollte uns zeigen, wie gut er ist. Ich muss offen zugeben, er ist gut. Er muss sich eine Menge Zeit genommen haben, um das so herzurichten, denn so was schafft man nicht in ein paar Minuten. Ich frage mich nur, warum Bruhns grinst und die Kleine so gequält aussieht. Gut, der hat immer irgendwie gegrinst, war ihm vielleicht angeboren. Aber ich habe bis jetzt noch keinen Toten gesehen, der tot noch gegrinst hat. Du?« »Natürlich nicht«, war der einzige Kommentar, den Santos dazu abgab. »Bist du bald fertig mit deiner Analyse?«

»Gleich«, antwortete Henning und ging mit langsamen Schritten durch den Raum, um den Tatort von allen Seiten zu betrachten. Schließlich zog er sein Telefon hervor und rief in der Kriminaltechnik und anschließend Professor Jürgens von der Rechtsmedizin an. Zuletzt wählte er die Nummer seines Vorgesetzten Volker Harms, erstattete ihm in knappen Worten Bericht und bat ihn, mehrere Beamte der örtlichen Polizei zur Sicherung des Grundstücks anzufordern.

»Wann kommt unsere Truppe?«, fragte Santos, nachdem Henning sein Handy wieder eingesteckt hatte. »Zwanzig Minuten, halbe Stunde. Jürgens war nicht gerade begeistert, seinen heiligen Sonntag opfern zu müssen. Klang fast so, als würde er noch im Bett liegen, und das nicht allein.«

»Nicht mein Problem. Wir haben Bereitschaft, er hat Bereitschaft.«

Henning stellte sich neben Santos, seine mehr oder minder heimliche Lebensgefährtin, bei der er sich die meiste Zeit aufhielt und mit der er sich besser verstand als mit irgendeinem anderen Menschen jemals zuvor. Alles, was er erlebt hatte, dachte er oft, hatte er so erleben müssen, um Lisa zu treffen und irgendwann richtig kennenzulernen. Sie war eine ganz besondere Frau, und er fragte sich bisweilen, ob er das oft genug würdigte, ob er ihr auch wirklich immer zeigte, wie viel sie ihm bedeutete. Sie hatte ihn an der Hand genommen und aus dem finsteren Tal herausgeführt, aus dem er keinen Ausweg mehr für sich gesehen hatte. Dank ihr hatte er das Licht am Horizont gesehen und wieder Lebensmut geschöpft. Ohne Lisa hätte er vermutlich noch immer Akten gewälzt, hätte über sein verkorkstes Leben gebrütet, wäre abends nach Dienstschluss mit dem Fahrrad in seine schäbige Bude in einem schäbigen Viertel gefahren und hätte, wie er es nannte, den Mond vor lauter Weltschmerz angeheult. Er hätte Lisa gerne geheiratet, aber dann würden sie nicht mehr in einer Abteilung zusammen arbeiten dürfen, eigentlich bewegten sie sich jetzt schon am Rande des Erlaubten, doch ihr Vorgesetzter Volker Harms wusste, er konnte sich auf sein beinahe perfekt eingespieltes Team verlassen, vor allem aber wusste er, dass beide Berufliches und Privates sehr wohl voneinander zu trennen vermochten. Wäre es anders, Harms hätte entweder Henning oder Santos einer anderen Abteilung zugewiesen. »Was hältst du davon?«, fragte Henning und deutete auf die Pistole, die neben Bruhns auf dem Boden lag. »Du meinst die Waffe?« Lisa zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Und du?«

»Man könnte fast auf die Idee eines erweiterten Suizids kommen. Er knallt sie ab, während sie ihm einen bläst, und danach jagt er sich eine Kugel in die Birne, und die Knarre fällt neben ihm auf den Boden. Könnte es so gewesen sein, und der Anrufer ist nur jemand, der die Leichen gefunden hat, sich aber nicht zu erkennen geben will?«

»Ausgeschlossen ist nichts, aber warum ausgerechnet Bruhns? Der hätte doch im Leben keinen Grund gehabt, so was zu machen - und dann auch noch während seiner Lieblingsbeschäftigung? Ich kann's mir beim besten Willen nicht vorstellen. Der hat Geld wie Heu, die halbe Welt liegt ihm zu Füßen ...« »Oder eine Gespielin kniet vor ihm ...« »Tut mir leid, wenn ich nicht lache, aber mir ist im Augenblick nicht danach. Noch mal: Ich kann mir einen erweiterten Suizid nicht vorstellen. Der hatte doch gestern Abend noch einen Fernsehauftritt, das habe ich irgendwo gelesen.«

»Woher soll ich das wissen, wir haben uns gestern zwei DVDs angeguckt.«

»Außerdem hätte der Typ nicht mich, sondern ganz normal die 110 angerufen. Entweder hat er die beiden erschossen, oder er weiß, wer es war.« »Oder er ist vorbeigekommen, um Bruhns zu besuchen, hat die zwei gefunden und ...«

»Aber ich wurde angerufen, und so, wie der Anrufer klang, scheint er eine Menge über uns beide zu wissen, zum Beispiel, dass wir zusammen sind und du quasi bei mir wohnst. Sören, er hat mich nicht zufällig angerufen, das war gezielt. Er wollte, dass wir beide die Leichen finden. Ich steig nur nicht dahinter, was hier gespielt wird. Ach, das hätte ich beinahe vergessen, er sagte noch, er würde sich wieder bei mir melden.« »Was? Wieso hast du das nicht schon vorhin gesagt?«

»Mann, ich war total durcheinander.«

»Also gut, dann versuch, dich zu erinnern. Klang seine Stimme ruhig oder eher nervös?«

»Ruhig, sehr ruhig.«

»Und seine Stimmlage?«

»Schwer zu beurteilen, aber ich würde sagen unauffällig, normal. Nichts Markantes.«

»Dialekt?«

»Nein, reines Hochdeutsch. Auch kein Akzent.« »Okay, also kein Ausländer. Und das Alter? Was denkst du?«

»Seit wann kann man anhand einer Stimme das Alter einer Person bestimmen? Keine Ahnung, er kann zwanzig, aber auch vierzig oder fünfzig gewesen sein. Reicht dir das?«, antwortete sie gereizt. »Schon gut. Woran erinnerst du dich noch?« Santos dachte nach und sagte dann: »Er hat mir ganz klare Anweisungen gegeben. Er scheint es gewohnt zu sein, das Sagen zu haben. Er ist auf keinen Fall jemand, der zufällig auf die zwei Leichen stößt und dann bei mir anruft, sonst wäre er viel nervöser gewesen. Außerdem, woher hätte so jemand meine Privatnummer haben sollen?«

Santos' Handy klingelte, wieder wurde keine Nummer auf dem Display angezeigt.

»Ja?«

»Haben Sie sie gefunden?« »Haben Sie sie umgebracht?«

»Das herauszufinden überlasse ich gerne Ihnen, meine Liebe. Wie gefällt Ihnen das Bühnenbild? Ich finde es sehr ansprechend und künstlerisch wertvoll. Vielleicht etwas zu pornografisch, aber das gehört ja heute praktisch zum guten Ton. Eine verrohte Welt.«

»Sie sind pervers. Was wollen Sie wirklich von mir? Sie haben doch nicht den Kontakt zu mir gesucht, nur damit ich Bruhns und seine Geliebte finde.« »Ich will nichts von Ihnen, das heißt, noch nichts. Warum ich ausgerechnet Sie ausgewählt habe, das werden Sie noch erfahren. Sie sind eine sehr gute und engagierte Polizistin, und Ihren Kollegen schätze ich ebenfalls, ich habe jedenfalls schon viel Gutes über Sie gehört. Vielleicht habe ich Sie deshalb erwählt? Nun verabschiede ich mich und wünsche Ihnen viel Erfolg bei den Ermittlungen, wobei ich fürchte, dass Sie sich erst mal im Kreis drehen werden. Schade. Nun, ich lasse mich gerne eines Besseren belehren. Tschüs.«

»Sie verdammtes Arschloch!«, schrie Santos ins Telefon, doch der Anrufer hatte längst aufgelegt. »Was hat er diesmal gewollt?«, fragte Henning. »Er will uns demnächst wissen lassen, warum er ausgerechnet uns ausgewählt hat. Er hält uns beide für sehr fähige Polizisten -, nur, um im nächsten Satz hinzuzufügen, dass wir uns bei unseren Ermittlungen erst mal im Kreis drehen werden.«

»Okay, dann werden wir diesem Bastard das Gegenteil beweisen. Gnade ihm Gott, wenn ich ihn in die Finger kriege ...«

Ein Beamter, den sein Namensschild als Hinrichsen auswies, betrat den Raum, gefolgt von fünf Beamten der Spurensicherung und Professor Jürgens von der Rechtsmedizin.

»Tag«, begrüßte Hinrichsen Henning und Santos mit sonorer Stimme. Er war ein Riese, mindestens zwei Meter groß und recht stämmig, allein durch seine mächtige Statur respekteinflößend. »Meine Kollegen und ich sollen einen Tatort absichern?«

»Dafür wäre ich Ihnen sehr dankbar«, sagte Henning, sah auf die Uhr und fuhr fort: »Sie haben aber ziemlich lange gebraucht, ich dachte, Sie wären in zwei oder drei Minuten hier.«

»Tut mir leid, aber wir kommen aus Heikendorf und hatten dort noch einen längeren Einsatz. Häusliche Gewalt, wir mussten den Typen mit vier Mann abtransportieren ...« »Schon gut.«

»Das ist ja Bruhns«, stieß Hinrichsen ungläubig hervor, als er die Leichen genauer betrachtete, und zog die Stirn in Falten. »Der war doch gestern noch im Fernsehen. Meine Frau und ich haben's zufällig gesehen«, sagte er und lief im selben Atemzug rot an. »Sie brauchen nicht verlegen zu werden, Millionen gucken sich diesen Schrott an«, entgegnete Henning trocken. »Was war das überhaupt für eine Sendung, und wo wurde sie aufgezeichnet?«

»Das war keine Aufzeichnung, es war live. Soweit ich weiß, wird sie in Hamburg produziert, ich bin mir aber nicht ganz sicher. Meine Frau könnte Ihnen das ganz genau sagen.«

»Das finden wir auch so raus. Okay, er war also gestern Abend noch live im Studio. Worum ging's da?« »So 'ne Castingshow, wo Gesangstalente gesucht werden. So was Ähnliches wie DSDS, aber nicht so gut gemacht. Bohlen ist ja ganz witzig, aber Bruhns ist... wie soll ich's ausdrücken ... zynisch, ja, er ist zynisch und verhöhnt die Kandidaten. Ich find's nicht witzig, doch es gibt wohl genug Leute, die sich ihn als Vorbild nehmen. Ich sag nur, der Niedergang der Gesellschaft.«

»Ich gehe mal davon aus, dass Sie diese Show öfter sehen, und als Polizist haben Sie gewiss ein Gespür dafür, wenn etwas nicht stimmt. Was für einen Eindruck hatten Sie gestern von ihm? Wirkte er anders als sonst?« Hinrichsen wurde erneut rot, weil er nicht genau wusste, wie er Hennings Bemerkung interpretieren sollte, und kratzte sich am Kopf, bevor er achselzuckend antwortete: »Keine Ahnung, ich denke mal, er war wie immer. Ich habe allerdings auch nicht besonders darauf geachtet, ich habe nebenbei noch was gelesen und bin auch ab und zu mal aus dem Zimmer raus. Aber er hat dieselben Klamotten angehabt«, sagte er und deutete auf Bruhns. »Ich habe noch zu meiner Frau gesagt, dass er wieder mal unmöglich aussieht. Ich meine, wer läuft heute noch mit einem quietschroten Rüschenhemd und einem weißen Anzug rum? Und dazu rote Stiefel. Passt irgendwie nicht zu einem Mann in seinem Alter. Ist aber nur meine unwesentliche Meinung.« »Wie lange ging die Sendung?«

»Halb zehn, Viertel vor zehn, war so eine Art Vorausscheidung, am nächsten Samstag geht's dann richtig los.« »Hm. Danach ist er hierhergefahren, wollte sich eine nette Nacht mit seiner Geliebten machen und dann? Was ist dann passiert? ... Danke, Herr Hinrichsen, Sie haben uns sehr geholfen, wenn noch etwas ist, rufe ich Sie.« »Selbstverständlich«, sagte Hinrichsen und wollte bereits hinausgehen, als Hennings Stimme ihn zurückhielt: »Wie sieht's denn draußen aus?«

»Ruhig. Aber das wird sich wohl bald ändern, wenn die Leute merken, dass wir da sind. Ich leg jetzt mal los und halte Ihnen die Meute vom Hals.«

»Na, ordentlich was verunreinigt?«, fragte ein sichtlich übelgelaunter Tönnies, der Leiter der Spurensicherung, mit mürrischem Gesichtsausdruck, ohne ein Wort der Begrüßung zu verlieren.

»Nee, wir haben unsere Handschuhe an, garantiert keim- und Fremd-DNA-frei. Das Verunreinigen überlassen wir lieber euch. Habt ihr denn heute auch die passenden Wattestäbchen und Handschuhe dabei?«, begrüßte ihn Henning mit herausforderndem Grinsen. Tönnies winkte genervt ab und reckte den rechten Mittelfinger in die Höhe. »Mir kommen gleich die Tränen vor Lachen. Wollt ihr das jetzt jedes Mal bringen, wenn wir einen Tatort untersuchen?«

»Nur heute. Seit vorgestern ist es ja offiziell, dass es das Phantom nicht gibt, sondern nur jemand die Wattestäbchen in der Fabrik betatscht hat. Und das über so viele Jahre hinweg, ohne dass es jemandem aufgefallen ist. Das ist schon ein ziemlich übler Schiet, oder?« »Tja, möglich ist alles«, erwiderte Tönnies mit einer Stimme, die Santos aufhorchen ließ, es klang, als würde er an die seit einigen Wochen kursierende Version nicht glauben. Es hatte mit der Vermutung eines Rechtsmediziners, der hohes Ansehen genoss, begonnen und schließlich immer weitere Kreise gezogen, bis am Freitag ein öffentliches Statement seitens des Innenministers allen bisherigen Spekulationen ein Ende gesetzt hatte. Das Phantom, das für mindestens zwölf Morde und unzählige weitere Delikte von Einbruch bis Raubüberfall und schwere Körperverletzung verantwortlich gemacht worden war, existierte nicht. Damit war der Fall gelöst - und der gesamte Polizeiapparat blamiert. Die Morde und anderen Taten allerdings waren damit keinesfalls aufgeklärt, der oder die Täter liefen weiter frei herum, und die Ermittlungen würden von vorn beginnen, wie der Innenminister bedauernd betont hatte. »Unser Zeug ist jedenfalls so steril, steriler geht's nicht.«

»Das haben die anderen jahrelang auch gedacht. Und dann?«, ließ Henning nicht locker.

»Shit happens, und das nicht nur bei uns, lieber Sören. Außerdem lass dir gesagt sein, noch ist längst nicht bewiesen, dass wir es mit verunreinigtem Material zu tun hatten, es gibt nur die Vermutung zweier selbsternannter Experten, von denen ich ehrlich gesagt nicht viel halte, und die Aussage eines Staatsanwalts, dass in dieser Richtung ermittelt würde.«

»Und die Pressekonferenz des Innenministers vorgestern? Wenn der sagt, die Wattestäbchen waren verunreinigt, dann waren sie verunreinigt«, hielt Henning dagegen.

Tönnies lächelte müde und antwortete mit einem sarkastischen Unterton: »Tja, wenn der das sagt, dann muss es wohl stimmen.«

»Du glaubst also nicht an die offizielle Version?«, mischte sich nun Santos ein, die ebenfalls große Zweifel an der Behauptung hegte, dass verunreinigte Wattestäbchen für die seit Jahren erfolglosen Ermittlungen verantwortlich sein sollten.

Tönnies fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und erwiderte mit der ihm eigenen Bissigkeit: »Liebste Lisa, eigentlich wollte ich mich aus dieser ganzen Sache raushalten und nie wieder einen Ton darüber verlieren, aber wie ich sehe, geht das nicht. Aber sei versichert, ich habe in meiner Laufbahn schon so viel Scheiße und Lügen erlebt, ich glaube gar nichts, solange mir nicht hieb- und stichfeste Beweise vorgelegt werden. Nur weil sich unser oberster Dienstherr hinstellt und irgendeinen eloquenten Mist von sich gibt, heißt das noch längst nicht, dass es tatsächlich so ist. Wie heißt es doch so schön: Nichts ist, wie es scheint. Mir scheint, hier ist ganz und gar nichts so, wie es scheint. Sorry für die Komplizierung, aber du hast mich bestimmt verstanden. Doch wir sind ja wohl nicht hier, um zu diskutieren, sondern um zu arbeiten. Lasst uns endlich ein paar Fotos schießen und anschließend unseren werten Herrn Leichenbeschauer seine Arbeit machen. Danach bitte ich alle, die nicht zu meiner Truppe gehören, zügig diesen Raum zu verlassen, damit auch wir ungestört...« »Ist schon gut. Bist du mit dem falschen Fuß aufgestanden?«, fragte die gut einen Kopf kleinere Santos und lächelte Tönnies von unten herauf an, ein Lächeln, dem er sich nicht entziehen konnte, auf seinen Lippen zeichnete sich für den Bruchteil einer Sekunde ebenfalls ein Lächeln ab, das aber sofort wieder verschwand. »Bin ich nicht, ich hasse es nur, wenn am Sonntag Leichen in der Gegend rumliegen und meine Familie mal wieder den Kürzeren zieht. Außerdem wollte ich nachher Fußball gucken.«

»Hat der HSV nicht schon gestern gespielt?«, fragte Henning und spielte den Ahnungslosen, woraufhin Tönnies ihm einen eisigen Blick zuwarf. »Hm, verloren«, sagte Jürgens grinsend. »Echt? Wie hoch?«, fragte Henning und konnte sich ein Grinsen ebenfalls nicht verkneifen. »Halt die Klappe«, knurrte Tönnies, »kassieren die Schwachköpfe vier Stück ausgerechnet in Gladbach! Die wollen Meister werden und kriegen die Hütte voll bei einem Abstiegskandidaten, bei dem jeder Dorfverein gewinnt. Vier Dinger, Alter, vier! Solche Dorftrottel! Ach, was reg ich mich auf, ist doch eh nur ein Spiel. Aber ich guck auch andere Mannschaften, falls es dich interessiert. So, und jetzt Feierabend, ich habe keinen Bock mehr, darüber zu reden.«

»Lisa, er hat schlechte Laune, weil sein HSV verloren hat. Komm, wir halten Abstand, sonst gibt's hier gleich noch zwei Tote mehr.«

»Ich. habe nichts gesagt«, verteidigte sich Lisa und machte eine abwehrende Handbewegung, »ich kenn mich mit Fußball überhaupt nicht aus, aber ich habe schon gehört, dass der HSV gestern ...«

»Könntet ihr jetzt bitte mal die Klappe halten?«, fuhr Tönnies die beiden an. »Wir sind nicht zum Vergnügen hier, obwohl die zwei es wohl waren, na ja, zumindest bis ihnen die Lust vergangen ist. Ich frage mich nur«, sagte er, warf erneut einen langen Blick auf die Toten und fuhr mit bierernster Miene fort, »hat sie ihn schon im Mund gehabt, oder wollte sie gerade anfangen ? Was meint ihr ?« »Das findet unser Doc doch ganz bestimmt schnell raus. Stimmt's, Doc?«, sagte Henning zu Jürgens, der sich, nachdem die Fotos und das Video im Kasten waren, in die Hocke begab und Bruhns und seine junge Begleiterin für eine Weile aus der Nähe betrachtete. Schließlich schüttelte er kaum merklich den Kopf.

»Möglich. Ich tippe mal, sie haben schon angefangen. Wie es aussieht, wurden sie beim Vorspiel gestört, bevor es richtig krachen sollte. Na ja, gekracht hat es schon, aber eben anders, als sie es sich wohl vorgestellt hatten. Oder aber es war keine dritte Person beteiligt«, fügte er lakonisch hinzu.

»Du ziehst also ebenfalls erweiterten Suizid in Betracht?«, fragte Henning.

Jürgens drehte den Kopf und zog die Brauen hoch. »Wieso ebenfalls? Du denkst doch nicht etwa ernsthaft in diese Richtung? Schmink es dir ab, war nur ein Witz.« »Na ja, könnte doch sein. Die Waffe auf dem Boden ...« »Das ist ein inszenierter Tatort, das hast du doch sicher längst erkannt. Hier hat jemand sehr sorgfältig Hand angelegt, um das alles so herzurichten. Was mich außerdem irritiert, ist, dass Bruhns einen eher entspannten Gesichtsausdruck hat, während das Mädchen verkrampft wirkt, als hätte sie kurz vor ihrem Ableben gelitten. Sie sieht jedenfalls nicht so aus, als würde ihr das, was sie gerade vorhatte, Vergnügen bereiten ... Du weißt schon, was ich sagen will.«

»Tut mir leid, aber ich kann dir nicht ganz folgen«, erwiderte Henning, auch Santos zog ein ratloses Gesicht. »Dein Pech. Von mir hörst du nichts mehr, solange ich sie nicht aufgeschnitten habe.«

»Lass uns jetzt nicht im Regen stehen. Wenigstens eine Andeutung.«

»Nervensäge. Schau doch mal genau hin, Bruhns grinst, und sie? Wie würdest du ihren Gesichtsausdruck deuten?«

»Gequält?«

»Besser hätte ich es nicht ausdrücken können. Sie sieht sogar sehr gequält aus, als hätte sie Schmerzen. Oder?« »Kommt hin. Nun rück schon raus mit der Sprache, du hast eine Vermutung, ich kenn dich doch.« »Mein Gott, du gehst mir auf den Senkel.« Jürgens holte tief Luft: »Ich will nicht voreilig sein, aber es könnte, wohlgemerkt es könnte, vor dem Erschießen noch etwas anderes im Spiel gewesen sein. Aber dazu muss ich die erforderlichen Untersuchungen vornehmen.« »Kannst du nicht ein klein wenig deutlicher werden?« »Kann ich nicht, ich muss die beiden obduzieren, um eine Aussage treffen zu können. Der Wein muss ebenfalls untersucht werden, könnte sein, dass er mit einem Gift versetzt wurde. Ich werde die Flasche mitnehmen und den verbliebenen Inhalt untersuchen. Sollte ich was finden, geb ich euch sofort Bescheid.«

»Heißt das, den beiden wurde Gift zugeführt, bevor sie erschossen wurden?«

Jürgens sah Henning von unten herauf beinahe strafend an und antwortete schärfer, als Henning ihn je gehört hatte: »Das habe ich nicht gesagt, und das bitte ich dich auch gleich aus dem Gedächtnis zu streichen. Du hast mich gelöchert, und ich habe dir nur geantwortet, was unter Umständen möglich sein könnte, doppelter Konjunktiv, falls dir das was sagt. Und jetzt lass mich zufrieden, ich bin nicht zum Spaß hier und schon gar nicht, um Spekulationen anzustellen. Sobald ich etwas Handfestes habe, lass ich es euch wissen.«

Henning trat mit entschuldigend erhobenen Händen zwei Schritte zurück und sagte: »Tut mir leid, ich wollte dich nicht ...«

»Lass mich einfach meine Arbeit machen!« Jürgens maß die Lebertemperatur erst bei Bruhns, danach bei der jungen Frau. Er notierte die Werte und sagte, als wäre nichts gewesen: »Wenn ich die Zimmertemperatur von dreiundzwanzig Grad nehme und die Lebertemperatur, dann würde ich sagen, der Tod ist zwischen Mitternacht und spätestens zwei Uhr morgens eingetreten, wofür auch die voll ausgebildete Leichenstarre spricht. Nach zwölf Stunden ...«

»Schon gut, überspringen wir diesen Teil.« Santos hatte keine Lust auf den Vortrag über den Zeitpunkt des Eintretens der Leichen- oder Totenstarre, den sie schon gebetsmühlenartig runterleiern hätte können: Nach zwei bis drei Stunden begann es am Kiefer, nach acht bis zehn Stunden war der gesamte Körper starr, als hätte er tagelang in einer Tiefkühltruhe gelegen, und in der Regel löste sich diese Starre nach zwei Tagen wieder vollständig, es sei denn, bestimmte Faktoren wie eine zu hohe oder zu niedrige Umgebungstemperatur verlangsamten oder beschleunigten den Prozess. Bei beiden Toten war die Leichenstarre vollständig eingetreten, was Jürgens in sein Diktiergerät sprach und anschließend notierte. Er blickte auf und sagte mit einem Mal grinsend: »Ich frage mich nur, wie wir die beiden abtransportieren sollen, so steif, wie die sind. Ich meine, bei ihm ist das nicht so schwer, nur die junge Dame bereitet mir aufgrund ihrer ungewöhnlichen Stellung etwas Kopfzerbrechen. Da müssen wir wohl oder übel ein wenig Gewalt anwenden, um sie einigermaßen gerade hinzubiegen. Na ja, sie wird's nicht mehr merken.«

»Hast du 'n Clown verschluckt?«, fragte Santos, die wahrlich nicht zum Scherzen aufgelegt war. »Ach komm, du kennst mich doch. Was ist los?«, sagte Jürgens, legte ihr einen Arm um die Schulter und deutete mit dem anderen auf die Leichen. »Bei dem Anblick kann man doch nur lachen, oder? Ich weiß, ich weiß, ich weiß, du siehst das alles aus der Sicht einer Frau, du siehst das junge Ding, das so sinnlos sein Leben lassen musste ...«

»Woher willst du wissen, was ich sehe oder denke?«, fragte sie schnippisch.

»Na ja, du bist eine Frau und somit etwas sensibler als ich ungehobelter Klotz. Habe ich recht oder habe ich recht?«

»Unter anderen Umständen hätte ich bei dem Anblick vielleicht auch gelacht, aber ich sehe im Moment nur eine junge Frau, die ihr Leben noch vor sich hatte. Selbst wenn sie eine kleine Nutte war, so was hat sie nicht verdient, so was hat keiner verdient. Wer immer ihr das angetan hat, dieser verdammte Perversling hat ihr selbst im Tod noch jegliche Würde genommen. Oder siehst du das anders?« »Nein, ich sehe es genau wie du. Aber Humor, auch wenn er noch so morbide ist, ist manchmal das Einzige, was uns in diesem Beruf über Wasser hält. Schau, wenn man wie ich praktisch jeden Tag in der Gruft zubringt...« »Ist doch nicht gegen dich gerichtet, manchmal bin ich ja selbst so drauf. Bruhns, okay, aber sie. Ich muss die ganze Zeit an meine Schwester denken, frag mich aber nicht, wieso. Ist einfach so.«

»Wieso ist Bruhns okay? Er war auch nur ein Mensch.« »Der war doch schon fast pädophil, dieser alte Sack.« »Lisa, es ist gut«, mischte sich jetzt Henning ein. »Fahr mal wieder runter. Die Kleine ist kein Kind mehr.« Er wandte sich an Jürgens: »Du bist auch nicht gerade ein Kostverächter, soweit mir bekannt ist.« »Ich weiß zwar nicht ganz, worauf du hinauswillst, aber eins lass dir für alle Fälle gesagt sein, mein Lieber: Meine Liebschaften sind alle erwachsen. Außerdem erwäge ich ernsthaft, ob ich nicht doch sesshaft werden sollte.« »Mir ist doch egal, was du privat machst, solange du dich an gewisse Regeln hältst.«

»Ich kann dir zwar nicht ganz folgen, aber mein Privatleben geht nur mich etwas an, damit das klar ist.« Santos registrierte erst jetzt unter der schwarzen, fast durchsichtigen Bluse, die neben dem Kamin lag, eine ebenfalls schwarze Handtasche, ging hin und hob sie auf. Sie entnahm ihr ein exklusives Portemonnaie und zog den Ausweis heraus.

»Na also, da haben wir's ja. Die Kleine hat nun einen Namen. Sie heißt Kerstin Steinbauer, geboren am zwölften Februar einundneunzig in Köln, wohnhaft in Düsseldorf. Gerade achtzehn geworden, sie könnte leicht und locker seine Tochter, fast schon seine Enkeltochter sein. Aber das ist es ja, was der Gute wollte, junges, knackiges Fleisch. Was anderes hat ihn neben seiner Musik nicht interessiert. Mistkerl.«

»Moment, ich will mal was sehen«, meinte Jürgens, untersuchte mittels eines Schnelltests Bruhns' Hände und fuhr schließlich nachdenklich fort: »Schmauchspuren. Was sagt uns das? Vielleicht doch erweiterter Suizid?« »Und ich bin der König von Dänemark«, wurde er von Henning barsch unterbrochen. »Ich habe das vorhin auch mehr im Scherz gemeint, das mit dem erweiterten Suizid. Wie kann er seine Gespielin umbringen, ohne dass sie umfällt? Oder hat er sie in diese Position gebracht, bevor er sich selbst die Kugel gegeben hat? Dann muss das aber sehr detailliert durchgeplant gewesen sein. Oder er war unzurechnungsfähig, was ich aber nicht glaube, und ich will jetzt keinen blöden Witz hören.« »Ganz sauber war er ja nicht in der Birne«, entgegnete Jürgens trocken. »Aber ich gebe dir recht, hier stimmt einiges nicht. Schmauchspuren hin, Schmauchspuren her, das alles passt vorne und hinten nicht. Vielleicht hat der Täter Bruhns die Waffe in die Hand gedrückt und ihn zum Beispiel in ein Spezialkissen schießen lassen, als er schon tot war. Das Kissen hat er mitgenommen. Es sei denn, ihr findet hier irgendwo ein oder zwei Kugeln.« »Möglich. Was hast du noch anzubieten?« »Tja, ich bin kein Hellseher, aber so einen Tatort habe ich noch nie zu Gesicht bekommen und ihr mit Sicherheit auch nicht. Das ist wie in einem Schmierentheater. Entweder es handelt sich wider Erwarten doch um einen erweiterten Suizid, dann finde ich das raus, oder wir haben es mit einem besonders ausgekochten Killer zu tun. Aber das werde ich auch rausfinden. Ich meine, Feinde genug hatte der gute Mann ja.«

»Aber noch viel mehr bewunderten ihn und seine eklige Art«, warf Lisa ein.

»Lisa, Lisa, nimm die rosarote Brille ab, das ist unsere Welt. Je mehr Müll die Leute reden, desto mehr werden sie bewundert. Daran wird sich auch nichts mehr ändern. Habt ihr irgendwas entdeckt, was auf eine dritte oder gar vierte Person hinweist?«

»Bis jetzt nicht«, antwortete Santos.

»Wer hat ihn eigentlich gefunden?«

»Lisa und ich. Sie hat vor etwa anderthalb Stunden einen anonymen Anruf erhalten, dass wir mal hier vorbeifahren sollten. Das Tor und die Haustür waren nur angelehnt, und den Rest siehst du.«

»Da wusste also jemand, dass hier zwei Tote liegen. Der Mörder? Der Anrufer war doch ein Mann, oder?« »Ja«, antwortete Santos.

»Ein Mann. Hm. Letzte Nacht war also noch jemand hier und ...«

»Nicht so schnell«, warf Santos ein, »es könnte doch auch sein, dass der Anrufer die Leichen gefunden hat, sich aber nicht zu erkennen geben möchte, aus welchem Grund auch immer. Behandelt den Tatort, als würde es sich bei dem Toten um den Bundespräsidenten handeln ...« »Nichts anderes hatten wir vor. Wir wollen uns doch nicht vorwerfen lassen, bei Bruhns geschlampt zu haben. Und sollten wir eine Fremd-DNA finden, die einer unbekannten weiblichen Person zuzuordnen ist, die seit 1999 ihr Unwesen treibt, seid ihr die Ersten, die es erfahren«, fügte Tönnies hinzu.

»Hahaha, das wird wohl kaum der Fall sein, nachdem die Sache aufgeklärt ist. Ach ja, schickt uns so schnell wie möglich die Fotos ins Präsidium. Schaut mal nach, ob ihr irgendwo das Aufzeichnungsgerät der Überwachungs-Kameras findet, könnte sein, dass da was drauf ist. Sören und ich fahren zu seiner Frau und überbringen ihr die freudige Botschaft.«

»Das Aufzeichnungsgerät ist weg«, sagte einer der Beamten der Spurensicherung bedauernd. »Wir haben schon alles abgesucht.« »Sicher?«

»Da hat jemand die Kabel abgemacht, ihr könnt euch selbst davon überzeugen.«

»Könnte es noch ein zweites Gerät geben?«, fragte Henning nach.

»Nein, sämtliche Kabel führen zu diesem einen. Da hat jemand ganze Arbeit geleistet, und er muss sich hier ausgekannt haben, denn das Aufzeichnungsgerät und der Monitor waren ziemlich gut versteckt.« »Vielleicht war's ja seine Frau«, sagte Jürgens und packte seine Utensilien wieder ein. »Sie hat gewusst, dass ihr Mann mal wieder fremdgeht, hatte von seinen Affären die Schnauze gestrichen voll, und da hat sie dann kurzen Prozess gemacht. Oder machen lassen, ich glaube nämlich kaum, dass sie sich die Finger selbst schmutzig gemacht hätte. Aber das ist Spekulation. Ihr wisst doch aus Erfahrung, dass Frauen aus verletztem Stolz oder verschmähter Liebe zu so ziemlich allem fähig sind. Habe ich recht, Lisa?«, fügte er hinzu.

»Ja, vor allem, wenn du noch so einen dummen Spruch ablässt«, konterte sie.

»Ob seine Frau was damit zu tun hat, das herauszufinden überlässt du uns, okay?«, sagte Henning zu Jürgens. »Nichts anderes hatte ich vor. Ich denke, wir sind hier fertig. Das heißt, ich bin's und mache mich vom Acker.« »Wann kannst du uns erste Ergebnisse liefern?«, wollte Henning wissen, als sie gemeinsam das Haus verließen, wo sich auf der Straße mittlerweile eine große Menschenansammlung gebildet hatte, darunter auch zwei Journalisten eines großen Boulevardblatts, die Henning und Santos kannten und nur darauf warteten, endlich ein Foto schießen und Fragen stellen zu dürfen. Acht weitere Polizeibeamte aus der Umgebung waren hinzugerufen worden, um das Grundstück großräumig abzusperren. Der Leichenwagen stand bereit, die Herren in den grauen Anzügen warteten nur auf das Kommando, die Toten abtransportieren zu dürfen.

Santos wandte sich noch einmal um, ging zurück ins Haus und sagte zu dem Fotografen: »Nimm doch mal ganz unauffällig die Meute da draußen auf, vielleicht haben wir Glück, und unser Mann befindet sich darunter.« Wieder bei Henning und Jürgens, deutete sie mit dem Kopf auf die Reporter und fragte: »Was machen wir mit denen?« »Ignorieren, es ist nicht unsere Aufgabe, hier und vor allem zu diesem frühen Zeitpunkt Statements abzugeben.« Henning wandte sich an Jürgens: »Du hast meine Frage noch nicht beantwortet, wann ...« »Morgen Vormittag.«

»Ach komm, ich spreche von ersten Erkenntnissen und nicht vom vollständigen Obduktionsbericht.«

»Wartet auf meinen Anruf, aber wundert euch nicht, wenn's mitten in der Nacht ist. Bis später.«

»Herr Henning, nur eine kurze Frage«, sagte einer der beiden Reporter, die er vom Sehen kannte, »stimmt es, dass Bruhns tot ist?«

»Schlagen Sie morgen die Zeitung auf, dann wissen Sie's«, erwiderte Henning, ohne eine Miene zu verziehen. »Ach kommen Sie, ein Ja oder Nein würde mir schon reichen. Sie wollen doch nicht, dass wir etwas schreiben, was am Ende nicht der Wahrheit entspricht. Und wir werden was schreiben, sonst wären wir nicht hier.« »Soll das eine Drohung sein?«, fragte Henning und sah den Reporter durchdringend an.

»Nein, so war das nicht gemeint«, wiegelte der Angesprochene ab. »Aber wir machen doch auch nur unseren Job. Ist er's oder ist er's nicht?«

»Ja, aber darüber hinaus gibt es keinen Kommentar. Wir werden noch heute Abend eine Erklärung herausgeben, bis dahin müsst ihr euch gedulden.« »Ist noch jemand bei ihm?« »Wie kommen Sie darauf?«

»Na ja, wir wissen doch alle, dass das hier eins seiner vielen Liebesnester ist.«

»Da wissen Sie aber mehr als ich, ich kannte dieses Haus bis vor wenigen Minuten nicht. Ansonsten kein Kommentar. Wieso seid ihr eigentlich hier? Wie habt ihr davon erfahren?«

»Wir haben unsere Informanten.«

»Aha. Mich würde aber sehr interessieren, woher ihr die Info habt, dass hier was passiert ist?«

»Ein Anruf, anonym. Das ist die Wahrheit, ich schwöre es.«

»Wann?«

»Vor einer Stunde etwa. Warum?« »Wurden Sie direkt angerufen?« »Ja.«

»Jetzt lassen Sie sich doch nicht alles aus der Nase ziehen. Was hat der Anrufer gesagt?«

»Nicht viel, nur dass wir mal nach Schönberg zu Bruhns fahren sollten, dort würde eine heiße Story auf uns warten. Das war alles. Mich hat gewundert, dass er mich zu Hause angerufen hat, denn meine Privatnummer kennen nur wenige.«

»Und warum sind eure Kollegen von der Konkurrenz nicht da?«

»Woher soll ich das wissen? Mir soll's recht sein, wenn wir exklusiv berichten können. Was ist mit seiner Frau?«

»Was soll mit ihr sein? Stehen schon welche von euch bei ihr auf der Matte?«

»Nein, großes Ehrenwort, das Überbringen schlechter Nachrichten überlassen wir der Polizei. Viel Glück und danke.«

»Wofür?«, fragte Henning mit zusammengekniffenen Augen.

»Einfach so. Wir werden auch nichts schreiben, was nicht verifiziert ist, großes Ehrenwort.«

»Wer's glaubt. Aber ich werde mir morgen den Artikel sehr genau durchlesen, und sollte ich etwas finden, das nicht mit dem übereinstimmt, was wir bis jetzt wissen, werden Sie nie wieder ein Statement von mir oder einem meiner Kollegen bekommen. Haben wir uns verstanden?«

»Natürlich, war ja deutlich genug. Schönen Tag noch.« Als sie wieder im Auto saßen, atmeten Henning und Santos durch und fuhren langsam aus dem Ort heraus. »Deine erste Einschätzung?«, fragte er auf dem Weg nach Kiel, wo Bruhns mit seiner Frau und der gemeinsamen Tochter lebte.

»Keine. Ich glaube, ich werde dieses Bild nie vergessen. Das ist so abartig. Wenn ich mir vorstelle, der Typ hätte erst die Presse informiert, und die hätten Fotos vom Tatort gemacht und ... Nee, ich darf mir das nicht ausmalen. Wer tut so was und warum?«

»Lisa, das war kein Mord aus niederen Beweggründen oder so. Da steckt mehr dahinter.«

»Inwiefern?«

»Ach komm, das hast du doch auch gesehen.« »Was habe ich gesehen?«

»Das Gesamtbild. Ich weiß auch nicht, wie ich es besser ausdrücken soll, aber die ganze Mühe, die der Täter investiert hat, das geht über Hass oder Rache oder Eifersucht weit hinaus. Allein, wie er sie positioniert hat. Warum? Warum hat sie nicht auf dem Boden gelegen, wie es doch nach einem Kopfschuss normal gewesen wäre? Und warum hat Bruhns noch über den Tod hinaus gegrinst, während diese Kerstin aussieht, als würde sie unter schrecklichen Schmerzen leiden? Warum war sie schon nackt, während er bekleidet war? Es gibt bis jetzt lauter Fragen und keine einzige Antwort.« »Ich habe auch keine, falls du eine erwarten solltest. Dazu kommt noch unser mysteriöser Anrufer. Mich würde zu sehr interessieren, welche Rolle er spielt. Mörder, Mittäter, Mitwisser oder nur Informant. Wenn er das nächste Mal anruft, stell ich auf laut, vielleicht hörst du ja mehr aus seiner Stimme als ich.«

»Glaub ich kaum. Warten wir ab, was die Spusi und Jürgens zu sagen haben. Wir stehen noch ganz am Anfang. Aber zuallererst bringen wir das mit Frau Bruhns über die Bühne. Es ist doch jedes Mal ein Scheißgefühl, wenn du nicht genau weißt, was du sagen sollst, weil du nie voraussagen kannst, wie die Reaktion ausfällt.«

 

Eisige Naehe
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